Das (a)soziale Leben des Homo OnlineSeinMuss

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Eine Kolumne spiegelt stets ausschließlich die private Meinung des Kolumnisten wider, nicht die Meinung der Redaktion oder des Seitenbetreibers.​

Der Autor möchte darauf hinweisen, dass es sich bei der folgenden Kolumne um eine Beschreibung nicht nur einer einzelnen Person handelt. Vielmehr wurden mehrere Personen zu einer einzigen, fiktiven zusammengefasst. Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit realen Personen und Ereignissen sind natürlich voll beabsichtigt und keinesfalls zufällig.

Die Verbindung steht. Seit neun Tagen, elf Stunden und einundfünfzig Minuten. Denn vor neun Tagen, elf Stunden und achtundvierzig Minuten wurden die letzten Updates und Patches eingespielt und haben einen Neustart erfordert.

Wenn normale Menschen aufstehen, gehe ich schlafe. Wenn normale Menschen zu Bett gehen, werde ich richtig wach. Ich bin der Prototyp einer neuen Rasse, des Homo OnlineSeinMuss. Ein Lebewesen, welches zu 90% aus Mensch, 8% Kaffee und 2% Nikotin besteht. Wie der Homo Sapiens Sauerstoff zum Leben braucht, brauche ich einen Internetzugang. Immer und überall. Möglichst schnell. Ohne direkten Anschluss an die große, weite Welt fühle ich mich hilflos, allein, verängstigt, nackt.

Die erste Handlung eines jeden Tages besteht immer darin, die Internetverbindung zu prüfen. Wie viele sinnlose Downloads sind über Nacht fertig geworden? Das ist eine weitere meiner Eigenschaften, ich habe von jeder Tauschbörse immer die neueste Version installiert und fühle den seltsamen Zwang, alles herunterzuladen was ich nur kriegen kann. Egal ob es sich hierbei um eine Videoaufnahme im Kino eines chinesischen Independent Filmes handelt, oder um das neue Album von Shakira. Was ich nicht habe, existiert nicht. Was nicht existiert hab ich trotzdem bestimmt irgendwo auf meiner Platte. Ich sehe mich als so eine Art Hüter des Kulturerbes dieser Cyberwelt.

Soeben habe ich eine weitere 200 GB Festplatte gekauft, jetzt kann ich viel saugen und speichern. Ich weiß gar nicht, was auf den restlichen 360 GB in meinem Rechner drauf ist. Vermutlich alte Downloads, ich weiß es nicht. Brauch ich ja auch nicht zu wissen, auf der neuen 200 GB Festplatte sind noch 180 GB frei. Und wenn die voll ist, gibt es bereits 300 GB Festplatten. Irgendein Onlineshop wird den dann schon unter EK anbieten.

Keine neuen Sachen über Nacht fertig runtergeladen. Keine japanischen Schulmädchenreports (kurz Manga), keine Kassenschlager Marke Küblböck, nichts. Langweilig, blöde Leute, sollen mehr freigeben. Ich gebe schließlich auch 200 Kbit meines 256 Kbit Upstreams frei!

Erstmal Kaffee, der Pegel im Körper ist soeben unterhalb die kritische 7.881% Marke gesunken. Symptome: Unkonzentriertheit, zittern, trockener Hals. Hals beruhigt sich, Finger wieder ruhig genug um Tastatur und Maus bedienen zu können. Der Verschleiß hier ist jedoch enorm, erst vor einer Woche ist mir eine Tasse Kaffee in meine Tastatur gelaufen. Hab sie noch retten können, aber ein weiteres Unglück wird ihr frühzeitiges Ende bedeuten. Ich sollte schon mal anfangen, in Onlineshops nach billigen Tastaturen zu suchen. Was teures kaufen lohnt nicht, geht doch eh bald wieder kaputt.

Erstmal schauen, was die Tauschbörsen so neues zu bieten haben. Eine Funktion, die alle über Nacht freigegebenen neuen Downloads auflistet wäre praktisch. So wird es immer ein wenig viel Handarbeit, alles zu finden. Aber das ist das Schicksal eines virtuellen Bibliothekars. Der muss auch genau wissen, welches Buch wo steht. Ich weiß mittlerweile, welche Tauschbörse für welche Art von Tauschware am besten geeignet ist. Noch ein paar Minuten, dann ist der neue japanische Schulmädchenreport runtergeladen, steht derzeit bei 99,6%. Ich habe zwar keine große Lust ihn anzuschauen, aber meine Berufung verpflichtet mich dazu. Wie soll ich denn sonst wissen, ob der Film gut oder nicht gut ist. Ein hartes Leben ist das, ich schulde es meinen Onlinefreunden.

Mutter ruft zum Frühstück, Rührei mit Schinken und Gemüse. Meine nötige Ration Eiweiß und Vitamine hab ich somit intus, brauche mir keine Sorgen mehr zu machen. Frühstückszeit mit der Familie ist immer hart. Während der Woche, wenn beide Eltern arbeiten sind, kann ich in Ruhe an meinem Tisch frühstücken, während ich dem beruhigenden Blinken des Verbindungssymbols in meiner Taskleiste zuschaue. Am Wochenende sind meine Eltern dummerweise fast immer da, das bedeutet gemeinsames Frühstück am Küchentisch und sinnlose Diskussionen mit meinem Vater führen.

Die SPD hat wieder Mist gebaut, aha. Interessiert mich nicht, solang die keine Online Werbung machen werde ich sie nicht wählen. Dieser Schröder scheint irgendein wichtiger Mann zu sein, nach dem Essen mal danach google‘n. Mutter meint, Schuld an der schlechten Wirtschaft sei nur die SPD, am schlechten Wetter sowieso. Leise mampfen wir die Nährstoffe weiter in uns hinein, hören Radio. Unfall auf der angrenzenden Autobahn, ein junger Mann wird sofort als Schuldiger und wilder Raser ausgemacht. Zwei Schwerverletzte, ein Toter. Das wird von Mutter gleich wieder zum Anlass genommen, über ein generelles Tempolimit auf unseren Autobahnen nachzudenken. Ihrer Meinung nach ist sowieso alles, was schneller fährt als 80, gemeingefährlich. Eine Welt, die nur aus Müttern besteht, wäre verdammt langsam. Im Forum gibt’s über diesen Unfall mittlerweile bestimmt eine Diskussion, werde gleich nach dem Frühstück (nach dem google’n nach Schröder selbstverständlich) mal dort meine äußerst wichtige Meinung kundtun. Vater schimpft auf Mutter, sie hätte doch keine Ahnung vom Straßenverkehr, Schuld sei bestimmt wieder Frau am Steuer gewesen.

Nach dem Essen schnell wieder an den Computer. Online seit neun Tagen, zwölf Stunden und einundvierzig Minuten. Insgesamt 12GB runtergeladen, 5GB hochgeladen. Nicht schlecht, könnte damit fast protzen gehen. Nicht, dass es in der realen Welt, sagen wir irgendwen einen Rattenschiss interessieren würde... aber die reale Welt interessiert mich ohnehin nicht.

Schröder ist unser Bundeskanzler... Google weiß einfach alles, fühle mich stark dazu animiert, den Monitor abzuschmatzen. Was wäre das Internet bloß ohne Google? Ich hatte übrigens recht, eine Person hat bereits einen Thread zu dem schweren Unfall gestartet. Mist, wieder nicht erster. Dieses blöde Frühstück hat mich ausgebremst, ich glaube meine Mutter ist daran schuld. Ich glaube, in Zukunft werde ich nie wieder zum Frühstück kommen am Samstag, und Sonntag... außer, ich darf meinen Laptop mit WLAN mitnehmen an den Tisch. Aber dagegen wehren sich meine Eltern, die meinen ich würde übertreiben. Die haben doch keine Ahnung.

Im Forum ist traditionell an einem Samstag Vormittag sehr wenig los. Ein paar Kinder tragen ein paar Meinungen zu ein paar äußerst sinnlosen Diskussionen bei. Meine ganzen Freunde sind nicht da, haben wohl ein Leben oder so. Ich kann gar nicht verstehen, was an der Welt da draußen so toll sein soll. Ich hab noch von keinem Fall gehört, wo ein Mensch von seinem Computer angegriffen wurde. Ist doch viel sicherer hier drin.

Wird wohl Zeit für eine Bestandsaufnahme, der Vor- und Nachmittag müssen irgendwie rumgebracht werden. Vielleicht sollte ich meine Rechner mal säubern, prüfen, liebhaben, knuddeln. Wer behauptet, Computer wären nur unpersönliche Maschinen der versteht die Liebe zwischen einem Mann und seinem Computer einfach nicht.

Der Server läuft noch, ohne Probleme seit Wochen durchgehend. Der alte Pentium II läuft auch wunderbar, ein wenig verstaubt ist er mittlerweile. Mal staubsaugen, schließlich darf der Computer, der 24h am Tag, an sieben Tagen die Woche für Nachschub aus den Tauschbörsen sorgt nicht versagen. Meine Lebensader wäre abgeschnitten, das darf nicht passieren.

Auch der alte Athlon schuftet noch fröhlich vor sich hin und tut irgendwas. Bin mir im Moment nicht sicher, was der überhaupt macht. Aber eines ist klar, es wird wichtig und weltbewegend sein, keine Frage. Aber auch den könnte man mal ein wenig entstauben, schließlich läuft der jetzt seit gut einem Jahr durch. Ich sollte vielleicht mal einen Monitor anschließen und schauen, ob der überhaupt noch läuft und was er überhaupt macht.

Der Hauptrechner tut’s auch noch. Sponsored by Daddy steht da ganz groß drauf, ich hab nur zwei Wochen lang schwärmen und gleichzeitig über fehlende Liebe motzen müssen und schon hat er mir den eines Tages mitgebracht. Solche Eltern muss man haben, demnächst kommt eine neue Generation an Grafikkarten raus, ich sollte so langsam wieder in Motzlaune kommen.

Es ist Nachmittag, die Rechner sind alle entstaubt. Der japanische Film ist fertig, muss angeschaut werden. Nach 10 Minuten bin ich bereits in der Handlung verloren, nach 30 Minuten wird der Beschluss gefasst, dass der Film richtig schlecht ist. Trotzdem wird er nicht gelöscht, ist schließlich nur 300 MB groß und gehört sicher irgendwann zum Kulturerbe dieser Welt.

Das ist ein Leben. Ein Zimmer, vier Computer, keinen Ausbildungsplatz bekommen. Muss an der schlechten Wirtschaftslage liegen, schließlich schick ich doch alle paar Wochen mal eine Bewerbung raus. Ist ja nicht meine Schuld, dass die Unternehmen sich bei mir nicht melden. Und diejenigen, die sich melden, verlangen meist noch Einsatz. Ich will doch nur einen gut bezahlten Job, damit ich mir mehr Computer kaufen kann. Am liebsten wär’ ich Websurfer von Beruf. Ich würde den ganzen Tag durchs Netz streifen und lesen. Alles Sinnvolle und Sinnlose wäre nicht sicher vor mir. Sind das nicht hervorragende Zukunftsaussichten? Aber irgendwie hab ich kein Bock zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen. Zu Hause sitzen und im Internet surfen macht doch viel mehr Spaß. Schließlich hab ich Verpflichtungen meinen Cyberkollegen gegenüber

Meine Hose passt mir nicht mehr, hab wohl schon wieder zugenommen. Versteh’ ich gar nicht, ich ess’ doch gar nicht soviel. Und das viele Treppenlaufen vom Kühlschrank zum Computer muss doch schlank halten, oder nicht? Duschen sollte ich vielleicht auch mal wieder, Eltern motzen. Mich stört der Mief aber wenig. Genauso wenig wie der – wie meine Eltern sagen – ungepflegte Bart der wild in meinem Gesicht wuchert. Aber Computer verurteilen mich nicht aufgrund meines Aussehens, noch ein Vorteil gegenüber Menschen.

Mutter sagt immer, Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Bisher war das wohl eher eine Phrase, aber ich erkenne so langsam die Einsicht dahinter. Mal ehrlich, mein Leben ist so was von hinüber, dass ich mich selbst schon der Illusion hingegeben habe. Ich bin zu schwach, um alleine dagegen anzukämpfen. Ich hab’s schon versucht und meine Rechner ausgeschaltet. Zwei Stunden später hat mir alles wehgetan, ich konnte einfach nicht anders, als sie wieder einzuschalten.

Aber nicht heute. Ab heute wird alles besser, schließlich hab ich noch den ganzen Samstag Abend und Sonntag um mein Dasein umzukrempeln und ab Montag ein neues Leben zu beginnen. Noch ein letzter Kaffee, eine letzte Zigarette, ein letzter Blick ins Forum und dann ist Schluss...

 
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