Al Gore - "Assault on Reason" (+abschweifende Gedankengänge meinerseits)

Redphil

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Habe gerade einen sp-on-Artikel zu Al-Gores neuem Buch "Assault on Reason" gelesen, und bin doch ziemlich beeindruckt (immerhin genug, daß ichs trotz klammer Kassenlage gleich geordert habe ;) ).
Diesmal widmet er sich nicht dem Klimawandel, sondern dem System USA als solchem, wobei mich nicht ausschließlich der Blick über den großen Teich interessiert (schon gar nicht die Hoffnung, etwaige anti-amerikanische Einstellungen bestätigt zu sehen, die mir zudem eh ziemlich fremd sind), sondern besonders auch die Parallelen zu unserer Lage hier und der Lage der "westlichen Welt" im Allgemeinen.
Interessant wird das Ganze natürlich schon durch seine Perspektive als ehemaliger Spitzenpolitiker, der jetzt mit dem Wissen, wies intern läuft, von außen auf das Ganze schaut (beinhaltet natürlich auch das Risiko, daß sich dort ein gescheiterter Präsidentschaftskandidat nur etwas Frust von der Seele schreiben will, macht imho aber nicht den Eindruck, als wäre das sein (hautpsächliches) Motiv).

Ein paar Zitate aus dem Artikel:
Er will aufrütteln. "Amerikas Demokratie ist in Gefahr", postuliert er dramatisch. Diese Gefahr drohe nicht von außen, sondern von innen. Und zwar von eigennützigen Plutokraten, von selbstgerechten Theokraten, von strategischen Panikmachern, von einem korrupten System, vom Zusammenbruch der Kommunikation, von Gleichgültigkeit, Ignoranz, Ungebildetheit, Angst und den Medien als Handlangern dieser Show.
Am detailliertesten - und überzeugendsten - aber macht sich Gore über die "Medien-Machiavellis" her: Journalismus sei zum Entertainment verkommen, und das Fernsehen - ein Werkzeug der Manipulation mit dem einzigen Auftrag, Werbegelder einzufahren - flankiere mit seiner "Simulation von Realität" die "beispiellose und andauernde Kampagne der Massentäuschung" des Weißen Hauses nur.
Gores Diagnose: Die Vernunft, einst Grundlage aller US-Politik, sei heute keinen Cent mehr wert. "Vernunft, Logik und Wahrheit scheinen eine scharf reduzierte Rolle zu spielen dabei, wie Amerika wichtige Entscheidungen fällt", klagt er. Statt dessen werde Politik mit Gefühlen gemacht - und mit perfide geschürter Angst. Die pawlowsche Reaktion des Volkes darauf, die Gore mit faszinierenden Ausflügen in die Verhaltensforschung illustriert, vergleicht er mit der von hypnotisierten Hühnern, einer etwas bizarren Erinnerung aus seiner Kindheit.
Und dann sehr schön :) :
So oder so, Gore hegt trotz allem Hoffnung. Seine "größte Quelle der Hoffnung" ist dabei das Internet, dessen Basisdemokratie "eine Plattform für das Streben nach Wahrheit" sei. Sprich: "Eine Plattform für die Vernunft."

Vieles davon ist nicht gerade neu, aber eine umfassende Darstellung aktueller Probleme westlicher Gesellschaften (denn daß sich das meiste davon auch auf Bundesdeutschland und Co. übertragen lässt, ist doch recht offensichtlich), die dick und saturiert gar nicht mehr mitbekommen/mitbekommen wollen, wie manches schwer erkämpfte Gut still und leise untergraben wird, Freiheiten beschnitten werden, sich politischer Einheitsbrei bildet (so daß es kaum mehr einen Unterschied macht, ob nun Demokraten/Republikaner, SPD/CDU oder wer auch immer die Sitze im Parlament warm hält, entsprechend auch Demokratie insgesamt an Bedeutung verliert), weckt doch mein Interesse.

Gerade im Bereich Innen-/Sicherheitspolitik lässt sich auch hier in Deutschland gut nachvollziehen, wie sehr diese Degeneration schon fortgeschritten ist.
Über die Medien wird Angst geschürt, paar Politiker der starken Hand (bei denen es natürlich völlig egal ist, ob sie Schily, Schäuble, Schill oder wie auch immer heißen und welches Parteibuch sie besitzen) geben ein paar markige Parolen von sich, schwupps, ist das nächste Gesetz auf dem Weg zum totalen Überwachungsstaat, zur völligen Entmündigung der Bürger durch, im Bedarfsfall kann man auch nochmal schnell am GG rumoperieren, etc. .
Und das Schlimmste: es interessiert eigentlich keinen. Jo mei, Vize-Vizeweltmeister sin mor och g'worden, so ein paar Fingerabdrücke im Paß ham noch känen umgebrocht (kA, weshalb ich in diesen pseudo-bayerischen Dialekt verfalle, ich stell das mal schnell wieder um). Außerdem ists eh gerade zu warm, sich über sowas Politisches aufzuregen.

Auch im Bildungsbereich gibts Auflösungserscheinungen. Erst wurde einfach mal mittels Studiengebühren die seit den 70ern halbwegs vorherrschende soziale Gerechtigkeit im Bezug aufs Studium ausgehebelt (was nur ein paar wenige Studenten irgendwie berührte, die bei ihren schon eher nur noch aus alter Gewohnheit veranstalteteten Demonstrationen von ihren Mitbürgern eigentlich auch nur als Unruhefaktor wahrgenommen wurden), und parallel der Studienaufbau radikal umgestürzt (den jahrhundertealten Magistertitel mal flott beerdigend, jetzt will man mit Bachelor und Master für internationale Vergleichbarkeit sorgen, hat dabei aber vergessen, sicherzustellen, daß es in der Arbeitswelt für die Schmalspurbachelors- und bacheloretten (o. wie auch immer die weibliche Form davon ist) überhaupt Bedarf gibt, zudem erschwert das durchkonzipierte Studium schon den innerdeutschen Uniwechsel ungeheuer, vom absoluten Chaos, was mit der Umstellung ausbrach, ganz zu schweigen...).
Jetzt soll natürlich auch an die Organisation/Strukturen der Uni rangegangen werden, klar wollen die Länder mehr Kontrolle, also werden Rektoren wohl bald nur noch von einem Gremium aus Wirtschafts-, Politikvertretern usw. bestimmt (in manchen Bundesländern wohl schon der Fall), verstärkte Einflußnahme auf Besetzung von Professorenstellen wird kommen etc. .
Akademische Freiheit? So was konnte man Universitäten im Mittelalter einräumen, im 21. Jhdt. ist das offenbar nicht mehr möglich.
Ein Geschichtsprof. von mir konnte diese drohenden Veränderungen nur noch mit der Situation der Universitäten zu NS-Zeiten vergleichen, und das ist wahrlich keiner, der so einen Vergleich unbedacht ziehen würde.

ok, das war ein weiter Rundumschwung, das Thema beschäftigt mich aber doch zunehmend, wobei ich mir allerdings doch auch noch sehr unsicher bin, wie das Ganze nun wirklich zu bewerten ist, alles noch im Rahmen, vorrübergehende Erscheinung, oder doch Weg in den Abgrund?
Es gibt in der Geschichte halt keinen raschen, klaren Umschwung von heute auf morgen, vorgestern Weimarer Republik, gestern plötzlich NS-Staat, heute Demokratie, morgen Überwachungsstaat mit nur noch Scheineinflußnahmemöglichkeiten der Bürger, sondern Veränderungen laufen als Prozesse ab, entwickeln sich Stück für Stück.
Die Kunst besteht wohl darin, aus den diversen Eindrücken der Zeit, den einzelnen Stücken, den Gesamtkurs gesellschaftlicher Entwicklungen abzusehen, aber einfach ist das nicht gerade, vielleicht auch wirklich erst im Nachhinein möglich.

Nachdem ganzen Abschweifen jetzt nochmal zurück zum Thema (jemand hier, der alles gelesen hat? *suspect* :) ), hat denn jemand das Al Gore Buch schon gelesen, wie fandet es ihr?

Link sp-on Artikel: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,484434,00.html

(nochmal sry für dieses unstrukturierte Posting, musste aber mal paar Gedankengänge abladen ;) )
 
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